An meinem zweiten Tag in Deutschland war ich zum ersten Mal in meiner Einsatzstelle. Von meiner Gastfamilie bis zur Klinik sind es zu Fuß ungefähr 45 Minuten. Deshalb bekam ich ein Fahrrad. Mit dem Bus hätte ich umsteigen müssen, außerdem fuhr er nur unregelmäßig. Nun stand ich vor einer Herausforderung, da ich nicht Fahrrad fahren konnte. In meiner Heimat wurde mir, als ich klein war, immer gesagt, als Frau gehöre ich in die Küche. Deshalb hatte ich nie eine Gelegenheit es auszuprobieren. Daher bin ich am ersten Tag zur Arbeit gelaufen. Dort angekommen wurde ich gefragt, wie ich hergekommen sei. ›Zu Fuß‹, sagte ich. Ich hatte das Gefühl, die Leute wunderte das. ›Nina, du musst Fahrrad fahren (lernen)! sagten sie zu mir. Ich wusste aber nicht wie. Am nächsten Tag ging ich wieder zu Fuß und wurde wieder gefragt. Und so weiter. Am meinem ersten freien Wochenende klingelte es dann morgens an der Tür. Ein halbes Dutzend meiner Kolleginnen stand dort. ›Wir bringen dir das Fahrrad fahren bei!‹ riefen sie. Wir haben den ganzen Tag geübt und hatten viel Spaß. Es war ein tolles Gefühl so viel Unterstützung zu bekommen und vor allem bin ich kein einziges Mal umgefallen. Am Montag bin ich morgens mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren. Am Anfang klappte alles gut, aber kurz vor der Klinik stürzte ich und landete im Dreck. Ich erzählte niemandem davon. Am Dienstag traute ich mich dann nicht, mit dem Fahrrad zu fahren. Meine Kolleg*innen erkundigten sich erneut, wie ich gekommen sei. ›Zu Fuß!‹ sagte ich. Sie ermutigten mich: ›Komm, trau dich, nimm das Fahrrad!‹ An einem Dienstag, zwei Wochen später, probierte ich es erneut. Und es klappte! Ich kam schnell und sicher an. Seitdem bin ich auf dem Weg zur Arbeit nie wieder gestürzt. Ich kann jetzt sogar im Wald freihändig fahren! Der Erfolg tat mir richtig gut. Ich bin durch das Fahrradfahren jetzt viel unabhängiger. Jede kleine Strecke fahre ich.
Meine Familie in Uganda wollte mir nicht glauben, dass ich Fahrrad fahren gelernt habe. Daher drehte ich ein Video. Meine Freunde filmten und ich fuhr die Straße hinunter. Am Ende der Straße drehte ich mich um, um ihnen zuzuwinken. Da kam plötzlich ein Auto. Ich konnte ausweichen, stürzte aber. Es ist zwar nichts passiert, aber meine Familie hat sich totgelacht, als sie das Video gesehen hat.
Eine Sache möchte ich noch erzählen. Lange hat mir zu Hause niemand geglaubt, dass in Deutschland viele Menschen unabhängig von Einkommen oder sozialem Status Fahrrad fahren. In Uganda haben wir deutschen Freiwilligen kaum die Möglichkeit gegeben, Fahrrad zu fahren. Damals dachte ich, das passt nicht zu ihnen. So etwas machen sie sicher nicht in Deutschland. Jetzt habe ich eine ganz neue Perspektive darauf gewonnen. Ich habe gelernt, was für ein tolles Gefühl es ist, selber fahren zu können. Schon in den ersten Wochen meines Freiwilligendiensts in Deutschland habe ich ein neues Hobby begonnen, das ich mit nach Hause nehmen werde. Auch werde ich den deutschen Freiwilligen, die ich treffe, zukünftig ›erlauben‹ in Uganda Fahrrad zu fahren. Für sie ein altes und für mich ein neues Stück Heimat.